Der Mythos von der Künstlichen Intelligenz

Künstliche Intelligenz ist zugleich digitale Hoffnung, Hybris und Horrorvision. Zwei Wissenschaftler klären in ihrem Buch über eine transhumanistische Pseudo-Religion auf, in der die Rolle von Technologie und Wissenschaft völlig überschätzt wird: Warum Maschinen niemals die Welt regieren werden.

von Fabian Nicolay

veröffentlicht am 14.01.2023

Künstliche Intelligenz ist ein ambivalentes Reizthema. „KI“ ist zugleich digitale Hoffnung, Hybris und Horrorvision. Umrankt von Mythenbildung und Zukunftsangst ist sie beliebter Hauptakteur in Verschwörungstheorien und kruden Hypothesen, nach denen die menschliche Biologie schon bald von der technischen Finesse irgendwelcher Algorithmen gekapert, kopiert und an Leistungsfähigkeit übertroffen wird. Das ist schon ziemlich verstiegen, wenn der Mensch glaubt, Jahrmillionen erfolgreicher Evolution ließen sich in wenigen Jahrzehnten technisch übertreffen. Dem positivistischen Ansatz steht ein pessimistischer gegenüber: Der Mensch schafft sich mit seiner Technik selbst ab. Die Intelligenz ist der Intelligenz ein Grab.

Das menschliche Gehirn, seine Funktionen und Fähigkeiten, genauer seine Intelligenz, wird dabei als ein von der Mathematik beschreib- und steuerbares, sogar reproduzierbares Artefakt verleumdet, als gäbe es keine Komplexität und elementaren Grenzen zwischen lebendigen und physikalischen, evolutionär-biologischen und künstlich-technischen Prozessen. Heutzutage scheint es beinahe anerkannt, dass es keine Komplexität gibt, die man nicht bald mathematisch beschreiben könne. Doch das ist ein fataler Grundirrtum, der die Angst um das Thema „KI“ zum Glühen bringt. Im Gegenteil: Die tiefe Komplexität und Variabilität des Belebten entzieht sich weitgehend mathematischer Beschreibbarkeit. Das sei vorausgeschickt.

Warum die meisten Behauptungen über die Mächtigkeit Künstlicher Intelligenz in naher Zukunft Unsinn verbreiten und warum das echte Leben unergründlicher ist, als es Machbarkeits-Fanatiker in ihren Visionen erträumen, darüber möchte ein Buch berichten, das der Arzt, Biochemiker und Mathematiker Dr. Jobst Landgrebe und sein Co-Autor Barry Smith im August 2022 veröffentlicht haben. Das eigentliche Vorhaben, das sie mit dem Buch verfolgen, sei, „die Grenzen der Wissenschaft, der Technologie und der Mathematik aufzuzeigen und hervorzuheben, dass wir in einem Zeitalter leben, in dem völlig überschätzt wird, was man damit verwirklichen kann. Es ist die Religion unserer Zeit, die Reichweite von Technologie und Wissenschaft zu überschätzen.“

Sensorisch minderwertig und kognitiv eingeschränkt

Es ist ein schwacher Trost: Die KI wird niemals selbst die Macht übernehmen – wie in den Filmen „Terminator“ oder „Matrix“, sagen die Autoren. Sie wird sich nicht als „böse“ Entität aus Prozessen algorithmischer Selbstoptimierung erschaffen und verbessern können, um dann eine „minderintelligente“ Menschheit zu versklaven. Wo steht also die Wissenschaft mit der „KI“ oder der „Artificial General Intelligence“ (AGI), wie sie von Landgrebe und Smith genannt wird? Wann ist diese „Starke Künstliche Intelligenz” der menschlichen Intelligenz ebenbürtig oder ihr sogar überlegen? Sind den Entwicklungen Grenzen gesetzt? Das erklären sie uns in ihrem Buch “Why Machines Will Never Rule the World: Artificial Intelligence without Fear”, „Warum Maschinen niemals die Welt regieren werden: Künstliche Intelligenz ohne Angst“ (bisher nur in englischer Sprache).

Es gibt sie noch, die Universalgelehrten, die sich auf Wissenschaft als sachliche Disziplinen beziehen, wenn sie die Realität beschreiben. Es sind solche Wissenschaftler, die nicht mit Projektionen von Science-Fiction Zerrbilder einer zukünftigen Realität zeichnen oder politisch aufgeladene Fragestellungen mit offensichtlich bestellten „Faktenlagen“ zu untermauern versuchen. Statt partielles Wissen zu referieren, können sie in großen Bögen darlegen, wo die Sphären der Biologie, Chemie, Physik und Mathematik aneinanderstoßen oder ineinander übergehen. Es ist eine unbestechliche Wissenschaft, die sie vertreten. Sie behalten ihren nüchternen Forscherblick, der sich zwar in den engen Grenzen menschlicher Erkenntnisfähigkeit bewegt, aber futuristische Spekulationen klar von Tatsachen unterscheiden kann.

Ich meine Universalgelehrte als echte „Freunde des Wissens“ (Philosophen), die die Grenzen des Sichtbaren oder menschlich Erfassbaren aus eigener Anschauung kennen und folglich auch Wissen von Glauben strikt unterscheiden. Kritische Distanz und Urteilskraft sind ihre Merkmale, Demut und Philanthropie ebenso. Sie sind keine Aufschneider, die Anerkennung bei Medienvertretern oder Politikern erheischen, indem sie beliebte und politisch gewollte Wissenschaftsmythen wiederkäuen. Sie reden auch nicht wie die Sektenführer, die mit eigentlich albtraumhaften Visionen den Heerscharen von „Leadern“ und „Stakeholdern“ ein X für ein U vormachen und ein Menschenbild transportieren, nach dem der Homo sapiens sapiens als schwach, sensorisch minderwertig und kognitiv eingeschränkt zu gelten hat und deshalb einem „Cyborg-Tuning“ unterzogen werden muss: für die Ertüchtigung von Macht und Eliten – über eine triviale Menschheit, die man steuern und kontrollieren will. Kurz: Transhumanismus.

Unmissverständliche Züge eines Übermenschen-Kultes

Die Autoren gehen von einem kulturkritischen Ansatz aus. Seit rund 200 Jahren könne man beobachten, dass die Moderne in eine Kulturphase übergeleitet habe, die von einem massiven Glaubensverlust flankiert wird. Der Philosoph Friedrich Nietzsche habe bereits erkannt, dass es zum Aufstieg einer neuen säkularen Pseudo-Religion kommen werde, in der sich traditionelle (religiöse) Bindungen und Werte auflösen. Nietzsche markierte den Startpunkt eines neuen Säkularismus mit seinem Ausruf: „Gott ist tot“. Den Nationalsozialisten kamen diese Aspekte an Nietzsches Philosophie sehr entgegen, schließlich war seine Übermenschen-Theorie anschlussfähig an ihren Rassenkult. In den Cyborg-Fantasien der Transhumanisten finden sich ebenso unmissverständliche Züge eines Übermenschen-Kultes, mit dem die Welt verändert werden soll. Same old, same old.

Der Transhumanismus und der Glaube an Künstliche Intelligenz sind Bestandteile einer in der positivistischen Tradition entstandenen säkularen Pseudoreligion, die der (christlichen) Metaphysik und Transzendenz entgegensteht und vorgibt, sich nur auf das Tatsächliche, Machbare und Pragmatische einer Zukunftstechnik zu berufen. Man will den Menschen im Realen, Physischen formen und verbessern, im Ideellen der Religion und ihrer Erlösungsversprechen findet hingegen nichts mehr statt. Insofern ist das Erlösungsversprechen des Transhumanismus ein elitärer Ego-Kult um körperliche Selbstoptimierung.

Jobst Landgrebe sieht unsere postmoderne Gesellschaft als Milieu zahlreicher pseudoreligiöser Ansätze, die den christlichen Glauben für viele Zeitgenossen bereits jetzt ersetzt haben. Ein Teil davon sei der Glaube an einen nie endenden technologischen Fortschritt und eine Sicht von Technologie, die, einem Erlösungsversprechen gleich, auf die Vervollkommnung des Einzelnen zielt.

Nachweisen, wie falsch Klaus Schwab liegt

Dazu Landgrebe: „Das sehen wir auch im Bereich der KI und des Transhumanismus, nämlich der Glaube, dass wir unser eigener Gott sein können – und zwar durch die Nutzung von Technologie. Unser Buch widerlegt diesen Anspruch, allerdings nicht mit theologischen, sondern rein wissenschaftlichen Argumenten. Das ist der kulturelle Hintergrund, vor dem wir die Behauptungen von Leuten wie Elon Musk oder Martine Rothblatt verstehen müssen, die an den Transhumanismus glauben und daran, dass Maschinen intelligenter als Menschen werden, eine Annahme, die auch Singularität genannt wird. Wenn man nun den traditionellen christlichen Glauben verliert – oder in anderen Teilen der Welt andere Religionen – dann verschwindet das religiöse Bedürfnis nicht einfach. Daher muss der Mensch, wenn er von diesem Bedürfnis überwältigt wird, andere Wege finden, es zu realisieren. Die Idee der Unsterblichkeit, sei sie als biochemisch oder digital realisierbar angenommen, ist eine Spielart dieses Pseudo-Glaubens, der die wirkliche Religion ersetzt.“

Klaus Schwabs Buch „Die Vierte Industrielle Revolution“, das Landgrebe und Smith in ihrem Buch zitieren, halten die Autoren für eine Ansammlung schieren Unsinns. Schwab habe offensichtlich nie in ein Lehrbuch der Biologie, der Neurowissenschaft, der Medizin oder Physik hineingeschaut. Er habe von all dem keine Ahnung und fabuliere beispielsweise über Nano-Roboter, die Krebszellen aus einem kranken Körper herausschneiden könnten. Er berücksichtige dabei nicht einmal die grundlegendsten Dinge, etwa dass ein Nano-Roboter gar nicht in der Lage wäre, sich im Interzellulärraum fortzubewegen. Das besagt das Scallop-Theorem in der Physik, so die Autoren. Deshalb erklären sie in ihrem Buch basale Grundsätze der Physik, die nachweisen, wie falsch Klaus Schwab liegt. „Er kennt offensichtlich die einfachsten Sachverhalte nicht und erzählt wie ein Verrückter Märchen.“

In der Konsequenz geht es den transhumanistischen KI-Fantasten um die Loslösung von der Schöpfung als höchste Vernunft. In einem Akt konsequenter Hybris soll der Mensch also technisch „aufgemotzt“ werden. Die KI spielt hier eine entscheidende Rolle, denn sie soll die Software sein, mit der der zum Cyborg mutierte, bis dato unfertige Homo faber nun sein „Körper-Geist-Kontinuum“ aufgeben kann, um die technischen Anhängsel und Erweiterungen seiner Sensorik und Kognition zu assimilieren und irgendwann, irgendwie unsterblich zu werden, gegebenenfalls komplett digital. Das ist aber Nonsens, wie uns Jobst Landgrebe und Barry Smith darlegen. Das Vorhaben ist schlicht nicht umzusetzen.

Kein mathematisches Modell gut genug

Warum nicht? Man braucht dazu ein Modell, das die neurokognitiven Fähigkeiten des Körper-Geist-Kontinuums emulieren, also nachbilden und ersetzen kann, so die Autoren. Das bedeutet auch, dass man eine Nachbildung des menschlichen Geistes benötigt. Um dies zu erreichen, müsste man wissen, wie es in der Realität genau funktioniert. Für maschinelle KI muss man nämlich ein technisches Gerät entwickeln. Und dafür braucht man wiederum ein mathematisches Modell. Da es ein solches Modell nicht gibt und nicht geben wird, argumentieren Landgrebe und Smith vor allem gegen die Realisierbarkeit maschineller KI. Wenn man kein solches mathematisches Modell vorliegen hat, dann kann man auch Intelligenz nicht technisch entwickeln. Das Hauptargument ist also: Weil es sich bei dem Körper-Geist-Kontinuum um ein komplexes System handelt, kann man kein mathematisches Modell aufstellen, das gut genug wäre, eine solche Abbildung oder Simulation zu ermöglichen.

Für Jobst Landgrebe steht fest, dass sich alle natürlichen Systeme als komplex herausstellen, wenn man näher hinschaut. Dahingegen sind die logischen Systeme, die tatsächlich als solche gelten können, ausschließlich diejenigen, die der Mensch selbst geschaffen hat.

Was sind überhaupt die Eigenschaften von komplexen Systemen? Drei Charakteristika sind hervorzuheben: Die erste Eigenschaft ist, dass komplexe Systeme evolutionäre Eigenschaften besitzen. Sie können sich jederzeit ändern. Die zweite Eigenschaft ist die sogenannte Nicht-Ergodizität komplexer Systeme: Es gibt keine sich wiederholenden Muster. Ein einfaches Beispiel: Jede Welle, die an Helgolands Küste brandet, ist einzigartig – seit es Helgolands Küste gibt und seit dort Wellen branden. Keine Welle gleicht der anderen auf molekularer Ebene, sie sind alle verschieden, für immer.

Die „KI“ könnte „Feinde“ finden

Die dritte Eigenschaft komplexer Systeme ist ihre Getriebenheit. Durch getriebene Systeme fließt ständig Energie: Turbulenzen in einem Glas Wasser, Schneeverwehungen oder eine Rauchfahne. All dies sind Turbulenzphänomene, die mathematisch nicht abbildbar sind. Das gleiche gilt für das Klimasystem der Erde, für dessen Modellierung ebenfalls die mathematischen Werkzeuge fehlen. Es ist aufgrund seiner komplexen Eigenschaften schlicht nicht vorhersagbar, sagt Landgrebe über das Weltklima. Daher sind auch die globalen Klimamodelle, die zur Verfügung stehen, unsinnig, Augenwischerei. Landgrebe und Smith fordern dazu auf, endlich einzugestehen, dass die Wissenschaft nie in der Lage war, noch jemals dazu in der Lage sein wird, das Klima zu modellieren.

Künstliche Intelligenz wird als Werkzeug totalitärer Überwachung und Unterdrückung vermehrt eingesetzt werden. Das ist eine berechtigte Befürchtung, auch für Deutschland. Einige Regierungen sind schon munter dabei. Die Technik ist längst im Einsatz, zum Beispiel für Gesichtserkennung in Stadtzentren und Flughäfen; zur Datenverarbeitung ist KI in zahlreichen Anwendungen schon vorhanden. Nun fängt man an, damit zu jonglieren. Die Ziele sind klar. Für einen demokratischen Staat geht es um „die Sicherheit“ der Bürger, für einen autoritären Staat ist das Erstrebenswerteste „die Kontrolle“, mit der man möglichst viele Daten über seine Bürger erlangen und diese qualifiziert, automatisch und effizient analysieren kann. Die Ziele ähneln sich und sind austauschbar.

Die „KI“ könnte „Feinde“ finden, bevor sie sich organisieren, denn sie lernt strukturell zu erkennen, wie diese denken, wie sie fühlen und sich äußern, wo sie sich aufhalten. Sie erkennt Missliebige, bevor diese selbst wissen, dass sie missliebig geworden sind. Deshalb ist die KI eine Gefahr für die Freiheit, wenn sie in falsche Hände gerät. Es ist nicht die KI, die böse ist und die Macht übernimmt, sondern der ethisch verirrte Machtmensch, der sie einsetzt und missbrauchen will.

Mangelnde Qualifikation und mangelndes Wissen

Jobst Landgrebe hat für die eklatanten Fehleinschätzungen bezüglich der Künstlichen Intelligenz und der Überwindung des Körper-Geist-Kontinuums eine einleuchtende Erklärung: „Wer glaubt also an KI? Es sind Ingenieure, die nichts von der Mathematik verstehen, die hinter dem steht, was sie tun. Die glauben an so etwas. Wie Ray Kurzweil oder Elon Musk, der auch einen Bachelor-Abschluss in Ingenieurwissenschaften hat. Solche Leute haben nur so viel Verständnis von Technologie, dass sie überschätzen, was möglich ist.“

Wenn man einen Cyborg schaffen möchte, also einen Menschen durch das Hinzufügen von Technologie zum menschlichen Körper optimieren will, muss man entsprechende Technologie mit dem zentralen Nervensystem verbinden. Das zentrale Nervensystem stellt sich hier als Problem dar: Es ist mit den sensorischen Organen des Körpers „fest verdrahtet“. Cyborgisierung ist deshalb technisch nicht möglich, weil man nicht ändern kann, wie die Neuronen verdrahtet sind.

Ein anderes Feld, auf dem Unwissen zu falschen Annahmen und Hoffnungen führt, ist die genetische Veränderung von Menschen. Auch diese halten die Autoren für unmöglich. Selbst „ganz einfache“ Eigenschaften wie die Körpergröße seien durch mehr als 80.000 Genloci kodiert. Es gibt so viele Teile des Genoms, die an der Ausprägung grundlegender Eigenschaften beteiligt sind, dass die Forschung überhaupt nicht verstehe, wie es funktioniert. Nun zu glauben, dass man Eigenschaften des menschlichen Geistes, die durch zehn- oder gar hunderttausende Genloci kodiert sind, beeinflussen zu können, zeuge von mangelnder Qualifikation und mangelndem Wissen.

Um noch einmal auf das menschliche Gehirn und seine „technische Konkurrenz“ der KI zurückzukommen: Unsere Intelligenz sitzt in einem Organ, das aus etwa 100 Milliarden Nervenzellen besteht, in denen ein um Millionen Vielfaches an Molekülen miteinander interagiert. Wenn wir diesen „Intelligenzapparat“ nachbauen wollten, wäre ein mathematisches Modell mit viel mehr Variablen nötig, als es unsere mathematischen Fähigkeiten verkraften könnten. „Und selbst wenn wir hundertfach bessere mathematische Fähigkeiten hätten, könnten wir es noch immer nicht modellieren“, lassen uns die beiden Universalgelehrten wissen. Gott sei Dank.

Das Buch von J. Landgrebe und B. Smith „Why machines will never rule the world. AI without fear“ ist 2022 bei Routledge erschienen.

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