„Wir müssen alle umdenken“

veröffentlicht am 09.11.2022

Cognotekt wurde 2013 als Beratungsunternehmen für komplexe, daten- sowie forschungsgetriebene Branchen gegründet, der Schwerpunkt liegt auf der Verknüpfung von Life Science mit Data Analytics. Der Unternehmensgründer Dr. Jobst Landgrebe ist Mediziner und Mathematiker und berät Pharma- und Medizintechnikunternehmen zu Marktentwicklungen, Produktportfolios und strategischen Entscheidungen. „Pharma Relations“ sprach mit ihm über die Herausforderungen, denen sich Pharmaunternehmen in der aktuellen Krise gegenübersehen.

>> Herr Dr. Landgrebe, wie beurteilen Sie die aktuelle wirtschaftliche Lage?
Ich gehe davon aus, dass der gesamten Wirtschaft eine schwere Rezession bevorsteht. Das hat mehrere Gründe: Zum einen liegt es am Konjunkturzyklus. Wir hatten einen sehr langen Hochzyklus, der sich seit Beginn der Coronakrise abgeschwächt hat. Zwischendurch gab es zwar eine kleine Erholung, aber nun verschärft sich die Krise wieder. Das liegt auch daran, dass wir Blasenbildungen haben. Ein anderer wichtiger Aspekt ist die Verknappung von Energie, die aktuell das Hauptproblem vieler Branchen und so auch der Pharmaindustrie ist. Die Rezession bekommt sie dagegen erst mit etwas Zeitverzögerung zu spüren.

Wie stark ist die Pharmaindustrie von der Energiekrise betroffen? Und trifft sie alle Unternehmen gleichermaßen?
Durch den Boykott Russlands bekommen wir weniger Primärenergieträger nach Europa, gleichzeitig steigen die Energiepreise global stark an. Aufgrund dieser steigenden Energiepreise wird die Produktion von Medikamenten teurer. Interessant ist, welche Arzneimittel am stärksten betroffen sind – das sind die Generika. Das liegt daran, dass bei den Generika der Anteil der Produktionskosten am Verkaufspreis am höchsten ist. Bei den Originalpräparaten mit Patentschutz machen die Produktionskosten zwischen 5 und 15 Prozent des Verkaufspreises aus, bei den Biologicals zwischen 15 und 20 Prozent, bei den Biosimilars sind es etwas über 20 Pozent, aber auch das ist noch relativ wenig. Zwar können in diesen Segmenten Margen über einen längeren Zeitraum durch höhere Produktionskosten verloren gehen. Aber ich kann ein patentgeschütztes Originalpräparat immer noch gewinnbringend weiter produzieren, selbst wenn ich doppelt so viel für die Produktion ausgebe. Die Marge ist dann viel schlechter, aber als Hersteller verliere ich noch kein Geld.
Bei den Generika ist die Situation eine ganz andere, denn hier machen die Produktionskosten 60 Prozent des Verkaufspreises aus. Wenn die Energiepreise und damit zusammenhängend auch die Transportkosten steigen, reichen die erzielten Preise am Markt nicht mehr aus, um die Produktionskosten zu decken. Das ist meiner Meinung nach auch der Grund dafür, warum die Liste der Lieferengpässe immer länger wird. Kein Hersteller kann es sich erlauben, für einen Preis zu verkaufen, der niedriger ist als die Produktions- und Logistikkosten. Diese Situation ist deshalb so gravierend, weil die Generika einen sehr großen Teil des medizinischen Nutzens stiften.
Als Dienstleister machen wir uns immer sehr viele Gedanken über die Originalpräparate, aber im Moment sind diese gar nicht so stark betroffen und sie machen nur einen kleinen Teil des riesigen Korpus an verfügbaren Medikamenten aus. Von den Lieferengpässen im Generikamarkt sind aber ganz wichtige Arzneimittelgruppen betroffen, zum Beispiel Hormonpräparate und Antibiotika, aber auch viele andere Bereiche. Gerade auch in den letzten Wochen sind immer wieder neue Lieferengpässe aufgetreten.

Bedeutet das, dass Hersteller die Produktion einstellen müssen?
Viele Generikamarken lassen in Indien, China und Osteuropa produzieren, und die Energiepreise sind überall hoch. Wenn der Produzent für die Lieferung so viel verlangt, dass der Hersteller Geld verliert, dann kann er das einfach nicht mehr machen. Es wäre auch verantwortungslos, als Unternehmen Produkte zu verkaufen, mit denen man Geld verliert, denn auf diese Weise zerstört man das Unternehmen. Das ist wesentlich schlimmer, als einige Produktlinien einzustellen. Solange ich mich darauf beschränke, kann ich noch Arbeitsplätze erhalten und als Unternehmen weiter existieren.
Dass es sehr kurzfristig zu Lieferengpässen kommt, hat auch damit zu tun, dass Pharmahersteller heute keine großen Lager mehr haben. In den letzten 30 Jahren hat man alles auf just in time optimiert, um das gebundene, nicht produktiv genutzte Kapital zu minimieren. Denn wenn ich riesige Lagerhallen voller nicht verkaufter Medikamente als Puffer habe, dann ist das gebundenes Geld, das nicht für mich arbeitet. Es liegt unverzinst herum und erzeugt zudem auch noch Lagerkosten. Ob Outsourcing, Abbau von Lagern, Optimierung von Transport- und Lieferketten – das, was wir in den vergangenen drei Jahrzehnten gemacht haben, ist alles betriebswirtschaftlich extrem sinnvoll, wenn das makroökonomische Umfeld stabil ist.
Wir sind es gar nicht mehr gewohnt, ein echtes Krisenumfeld zu haben. Die Krisen, die wir in den letzten 30 Jahren hatten, waren alles milde Krisen, die man finanztechnisch bewältigen konnte. Aber jetzt haben wir einen echten Angebotsschock. Unsere Lieferketten, die Produktionsweise, aber auch die Preisbildung sind alle abhängig von einem stabilen Umfeld. Das haben wir jetzt nicht mehr, und dem System fällt es schwer, darauf zu reagieren.

Würden Sie sagen, dass die Arzneimittelversorgung der Bevölkerung insgesamt gefährdet ist? Und falls ja, muss dann der Staat eingreifen?
Wenn es so weitergeht, besteht diese Gefahr tatsächlich. Im Moment ist es so, dass man viele Arzneimittel, bei denen es Engpässe gibt, noch substituieren kann, indem man aus derselben Klasse andere Wirkstoffe wählt. Aber je mehr Präparate von solchen Engpässen betroffen sind, desto stärker geht es in Richtung eines ernstzunehmenden Versorgungsengpasses. Wenn man mal die Hierarche der Versorgungsnotwendigkeit betrachtet, steht ganz oben das Trinkwasser, gefolgt von Wärme, Abwasser und Nahrungsmitteln und dann kommt auch schon die medizinische Versorgung mit Basis-Medikamenten und Basis-Maßnahmen. Ist sie gefährdet, muss der Staat tatsächlich eingreifen.

Was könnte der Staat in diesem Fall tun?
Wenn die Produktionskosten so hoch sind, dass die Festpreise im Generikamarkt nicht mehr reichen, muss der Staat die Festpreise anheben. Das Problem dabei ist: Er kann das gar nicht so einfach tun. Denn die Festpreise entstehen ja über einen Mechanismus, in dem zwar staatliche Akteure eine Rolle spielen, aber es ist kein Ministerialbeschluss. Eigentlich müsste der Preisfindungsmechanismus im Generikamarkt überarbeitet werden, damit die Hersteller adäquat verdienen können. Wenn wir die Festpreise anheben damit die Medikamente weiter zuverlässig produziert werden, dann bezahlt das vor allem die GKV. Die kann aber nicht mehr Einnahmen generieren, weil ihre Einnahmen in einer Wirtschaftskrise natürlich auch sinken. Daher wäre aus meiner Sicht die einzige Lösung, die höheren Festpreise mit Steuermitteln zu subventionieren.

Die Generika-Hersteller haben vermutlich keine Möglichkeiten, selbst Einsparungen vorzunehmen.
Genau, Einsparungen sind ein Thema für die Hersteller von Originalpräparaten, denn die Durchschnittsmarge solcher Produkte liegt bei ungefähr 20 Prozent. Und diese Unternehmen haben riesige Ausgaben, die man ziemlich schnell zusammenstreichen könnte, ohne dass es existenzgefährdend ist. Ich denke dabei insbesondere an den Bereich Marketing und Sales, aber auch in Forschung und Entwicklung lassen sich Einsparungen vornehmen. Es wäre natürlich nicht gut, wenn die forschenden Unternehmen sparen müssten, aber im Gegensatz zu den Generikaherstellern hätten sie zumindest die Möglichkeit.

Könnten die Hersteller von Originalpräparaten denn ebenfalls Probleme bekommen, wenn die Krise länger andauert?
Es ist eine sehr spannende Frage, wie diese Unternehmen überhaupt unter Druck geraten können. Es wäre zum Beispiel vorstellbar, dass die Krankenversicherungen irgendwann sagen, wir haben jetzt so große Mehrausgaben bei den Generika, dass wir bei den Originalpräparaten sparen müssen. Doch wenn man sich anschaut, wo man im Gesundheitssystem sparen kann, wäre ein großer Hebel die regional bestehende ärztliche Überversorgung. Es ist aber sehr schwierig, dort zu sparen. Naheliegend für GKV und PKV wäre es daher, die Mehrausgaben im Generikabereich durch Einsparungen bei den Originalpräparaten zu kompensieren. Dafür gibt es verschiedene Möglichkeiten: Man kann über unterschiedliche Mechanismen die Preise senken, man kann aber auch die Volumina einschränken. Indem man als PKV beispielsweise bestimmte Indikationen nicht mehr erstattet – die Verträge lassen das in der Regel zu. Auf diese Weise trifft es dann auch die Originalpräparatehersteller und in diesem Moment entsteht echter Handlungsbedarf. Man muss sich hinsetzen, sich die Ausgaben ansehen und schauen, wo man sparen kann, ohne dem Unternehmen langfristig zu schaden. Das ist allerdings eine Aufgabe, die große Unternehmen traditionell nur sehr schlecht bewältigen können. Sie sind zwar offiziell zentral organisiert, aber im Grunde sind sie wie Ameisenhaufen, in denen es ganz viel Gewimmel gibt, das nur schwer zu kontrollieren ist. Das liegt schon alleine an der schieren Zahl der Mitarbeiter. Und dann stellt sich die Frage, wo spart man am cleversten? Wobei es das zusätzliche Problem gibt, dass natürlich niemand im eigenen Bereich sparen will.

Wo könnte man denn Einsparungen vornehmen?
Eine Möglichkeit wäre, dass die Industrie sich entscheidet, weniger für Marketing & Sales auszugeben. Wenn bei den Originalpräparaten alle etwas weniger „Krach“ machen, wären die Konsequenzen wahrscheinlich gar nicht so schlimm. Bei einer neuen Wirkstoffklasse würde ich die Marketingausgaben nicht reduzieren, aber bei bestehenden könnte man das schon machen – wenn die Wettbewerber es auch tun. Wenn man als einziger reduziert, verliert man natürlich Marktanteile, aber wenn man merkt, dass es einen branchenweiten Trend gibt, dann kann man sich das erlauben. Wie viel man dann konkret macht, ob man die Einsparungen eher in Marketing oder eher in Sales realisiert, in welchen Indikationsbereichen man kürzt und in welchen nicht, muss einzeln analysiert werden, und das ist sehr anspruchsvoll. Man muss sich alle Positionen ansehen und dann innerhalb des Unternehmens die Indikationsbereiche priorisieren. Diese Priorisierung hängt davon ab, welchen Anteil am Umsatz die einzelnen Therapiebereiche haben, wie profitabel sie sind und wie jeweils die Positionierung in den verschiedenen Bereichen im Vergleich zur Konkurrenz ist. Es gibt also ganz viele unternehmensspezifische Faktoren, die zu bedenken sind, wenn man solche Maßnahmen konkret umsetzen will.

Sie sagten eben auch der Bereich Forschung und Entwicklung käme für Einsparungen in Frage.
Der Bereich F&E ist der andere große Ausgabentopf der Industrie. Grundsätzlich bin ich dagegen, dort zu sparen, weil ich Innovation im Pharmabereich für äußerst wichtig halte. Aber wenn es nicht anders geht, könnte man auch dort überlegen zu priorisieren. Man könnte zum Beispiel das Entwicklungstempo in Indikationsbereichen oder Indikationen, die als wenig essenziell angesehen werden, etwas verlangsamen und die klinischen Studien später durchführen.
Wenn ich aber ein Pharmakon erforsche, das im Sinn von starken, messbaren Effekten wirkliche Morbiditäts- oder Mortalitätsverbesserungen mit sich bringt, dann ist das sicherlich die falsche Stelle für Einsparungen. Hier sollte man genauso weitermachen wie bisher.
Die Entwicklung sogenannter Lifestyle-Produkte oder von Onkologika der letzten Therapielinien könnte man dagegen verlangsamen oder sogar pausieren. Damit meine ich nicht, dass solche Produkte nicht auch sinnvoll sein können, aber angesichts der Markterwartungen in der Krise sollte ich mir als Unternehmen die Frage stellen, ob ein neues Lifestyle-Produkt eine hohe Priorität haben muss. Wenn die GKV schon ächzt, ist so etwas auch in der Gesellschaft nicht mehr gut vermittelbar. Es wäre auch für das Image nicht gut, ein reines Lifestyle-Produkt in die Krise hineinzulaunchen.

Gibt es noch andere Ansatzpunkte in Forschung und Entwicklung?
Eine Möglichkeit wären Fail-Fast-Systeme. Das ist allerdings eine sehr schwer umzusetzende Idee, weil sie einen Wandel in der Unternehmenskultur erfordert. Der Gedanke dahinter ist, dass man relativ früh in der Entwicklung aufhört, wenn man merkt, dass das Arzneimittel Probleme bereitet. Das Gros der Entwicklungskosten entsteht ab Phase 3, insbeondere in den großen Pivotal Studies. Sehr häufig kann man aber bereits in Phase 1 und insbesondere Phase 2 erkennen, ob es sich lohnt weiterzumachen. Aktuell werden aber viele Projekte durchgezogen, obwohl die Signale der Phase 2 nicht gut sind. Das gilt insbesondere, wenn eine nur marginale Wirkung zu erkennen ist. Dann heißt es häufig: „Wir können das später mit dem Marketingbudget ausbügeln.“ Denn wenn ein Unternehmen 10 Milliarden Euro Umsatz hat, dann gibt es durchschnittlich 4 Milliarden für Marketing und Sales aus. Damit kann man schon viel bewegen.

Warum ist es so schwierig, solche Fail-Early-Systeme zu etablieren?
Das liegt daran, dass wir alle in Zeiten des Überflusses aufgewachsen sind. Zu unseren Lebzeiten ging es bisher ja immer nur weiter nach oben. Eine Unternehmenskultur ist immer auch ein Abbild der gesellschaftlichen Gesamtkultur. Wenn es gesellschaftlich eine Überflusskultur gibt, dann haben Unternehmen die auch. Psychologisch ist ein Umdenken gar nicht so leicht. Aber ich bin überzeugt, dass das ein kultureller Wandel ist, der eingeleitet werden muss.
Die Erfahrung zeigt aber, dass die Bereitschaft der Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen, tiefgreifende Änderungen zu akzeptieren, deutlich zunimmt, wenn sie merken, dass die Existenz des gesamten Unternehmens auf dem Spiel steht. Ich würde es aber nicht so weit kommen lassen. Ich halte es für besser, wenn man das früher macht, und deshalb beraten wir Unternehmen auch dabei, wie sich solche Change-Prozesse am besten umsetzen lassen.
Ich denke, ein Krisenumfeld kann so etwas sicherlich befördern. Ich glaube nicht, dass wir eine Rezession bekommen, sondern eine Kontraktion, also eine wirklich scharfe Reduktion des Bruttoinlandprodukts. Dann kann es sein, dass das, was die Menschen außerhalb des Unternehmens erleben, so prägend ist, dass sie einsehen, dass auch im Unternehmen Änderungen notwendig sind. Wir müssen alle umdenken.

Inwieweit ist der Beratungsbedarf Ihrer Kunden bereits von der Krise geprägt?
Bei den Generikaherstellern geht es aktuell in erster Linie um Strategien, wie man am geschicktesten vorgeht, wenn man mit staatlichen Stellen spricht. Das funktioniert nur über Transparenz – wenn man die Bücher öffnet und offen mit den Menschen spricht, dann findet man auch Gehör. Und genau das ist jetzt angesagt.
Bei den Originalpräparate-Herstellern muss man jetzt eine neue Form von Prognosen machen – nicht mehr „Es geht immer weiter nach oben“. Der Anteil der Pharmaausgaben am Bruttossozialprodukt ist immer weiter gestiegen oder war zumindest auf einem hohen Niveau stabil, und jetzt muss man sich tatsächlich mal fragen, ob das so bleibt und wenn nicht, welche Indikationsbereiche dann als erste betroffen sind. Welche sind die Segmente, in denen die Gesellschaft am ehesten sparen wird? Basierend auf der Antwort muss man möglicherweise seine Portfolio-Strategie auf die zu erwartende Zukunft umstellen. Da gibt es sehr viel Beratungsbedarf. Dabei geht es nicht darum, dass einzelne Individuen in den Firmen nichts verstanden hätten, sondern es ist wichtig, diese Themen zu bündeln, gut darzustellen und den Unternehmen dabei zu helfen, das intern zu kommunizieren.

Herr Dr. Landgrebe, vielen Dank für das Gespräch! <<

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